Wie die Luft zum Atmen

 

Wie die Luft zum Leben- 

 

Mit dem Glauben Berge versetzen

 

Wiedermal war ich im Museum (Brandhorst in München) Ich sah eine Video Installation, eine außergewöhnliche Collage von verschiedenen Gospelchören und wurde mit dieser Musik und den intensiven Bildern an einen Tag zurückversetzt, den ich fast vergessen hatte: vor 33 Jahren besuchte ich in Louisville, Kentucky, als einzige „Weiße“, einen Gospelgottesdienst einer afroamerikanischen Gemeinde. Auch heute noch fällt es mir schwer, Worte für diese Erfahrung zu finden, dem Gefühl ein Fremder zu sein in einer anderen Welt und Zuschauer zu sein, in einer Menge von Menschen, die ihren Glauben mit Singen, Beten und ekstatischen Ausbrüchen bezeugten. Neben mir eine Frau, die völlig entrückt sang, da war für mich spürbar, wie nahe und heilsam spirituelle Erfahrungen sein können. Wie in einer griechischen Tragödie, kathartisch geläutert, verließen wir nach (nicht langweiligen) eineinhalb Stunden die Kirche und waren gestärkt für die kommende Woche.

 

Heute gibt es viele Vorurteile und Vorbehalte (einige zu Recht) gegen Religionen und Praxis der Kirchen, wenn in deren Namen Kriege geführt werden oder Menschen diskriminiert. Hier und jetzt will ich den heilsamen Aspekten von Religiosität und Spiritualität nachgehen.

 Es gibt unzählige Definitionen von Gott. Doch ich bete Gott nur als Wahrheit an." (Mahatma Gandhi)

 

Vor ein paar Jahren wurde ein vor 40.000 Jahren im Alb Donau Kreis gefertigte Venus Figur entdeckt, die um den Hals, wahrscheinlich als Fruchtbarkeitsritual getragen wurde. Im Südosten der Türkei steht ein 12.000 Jahre altes tonnenschweres Steinmonument- wozu?

Auch andere Fundstücke und Bauten unserer spirituellen Tradition als Mensch (Pyramiden in Südamerika oder in Ägypten, der Kölner Dom) sind tausende von Jahren alt und legen Zeugnis ab, dass wir Menschen zu jeder Zeit und in jedem Teil der Welt, Spiritualität gelebt haben und leben.

 

Spiritualität kommt aus dem Lateinischen und heißt wörtlich übersetzt „ich atme“. „Spiritualität im spezifisch religiösen Sinn steht für die Vorstellung einer geistigen Verbindung zum Transzendenten, dem Jenseits oder der Unendlichkeit. Während Religiosität die Ehrfurcht vor der Ordnung und Vielfalt in der Welt und die Empfindung einer transzendenten Wirklichkeit meint,[1] beinhaltet (religiöse) Spiritualität zusätzlich die bewusste Hinwendung und aktive Praktizierung einer als richtig angesehenen Religion oder Weltanschauung.“ Quelle: Wikipedia

 Für viele Völker, z. B auch im Tibet gehört gelebte Spiritualität zum Leben dazu, wie bei uns Zähne putzen.- Auch wenn China das verhindern will. Es ist wie ein Grundbedürfnis der Menschen, wie Essen, Trinken oder die Luft zum Atmen.

 

Eine Wolke beobachten, mit all dem Licht der Welt darin.

Einem Fluss folgen, der den Hügel hinabströmt.

Einen Freund mit Empfindsamkeit ansehen.

Sich selber sehen, wie man ist, ohne einen Schatten der Ablehnung.

Sich selber als Teil des Ganzen sehen.

Die Unermesslichkeit des Universums schauen.

Das ist Achtsamkeit. 

- Jiddu Krishnamurti

 

Wie konnte uns dieses Bedürfnis abhandenkommen? Heute scheint es so, brauchen wir das alles nicht mehr? Fast alle Geheimnisse entschlüsselt, sogar das menschliche Genom, wir wissen, warum wir nicht von der Erde fallen können (Schwerkraft), woher Krankheiten kommen, warum die Sonne aufgeht….

Wahrscheinlich gibt es eine Generation, die durch Negativerfahrungen mit der Kirche die Nase voll hat, von dem Thema.

 

"Wer Gott aufgibt, löscht die Sonne aus, um mit einer Laterne weiter zu wandern." (Christian Morgenstern)

 

Das ist noch nicht lange her, da wurden Leute die Yoga praktizierten mit einer Sekte verglichen und Qi Gong oder Meditation als Esoterik lächerlich gemacht. Heute erleben wir eine Öffnung: jahrtausendealtes Wissen aus Indien (Yoga, Ayurveda) und aus China (Qi Gong, Tai-Chi, TCM) hat die Gesundheitslandschaft in unserer Welt bereichert. Jack Kornfield hat buddhistischen Prinzipien in seinem Buch „das weise Herz“ für westliche Menschen verstehbar gemacht. Das Verdienst von Jon Kabat-Zinn war es, die Lehre vom Zen- Buddhismus religionsfrei in sein 8 Wochen Achtsamkeitstraining zu übertragen und in eine Form zu bringen, die für viele, die mit Religion nichts zu tun haben wollen, einen Zugang schafft zu Meditation. Das ist jetzt Standard als Angebot in den Rehakliniken!

 

Es gibt kein gutes oder schlechtes Meditieren; es gibt nur das Gewahrsein oder den Mangel an Gewahrsein dafür, was in unserem Leben vor sich geht.
- Charlotte Joko Beck, Einfach Zen

 

Diese Entwicklung hat einen Raum geschaffen, dass sich nun Menschen und Wissenschaftler mit der Frage beschäftigen, was hat gelebte Spiritualität für Auswirkungen auf mein Leben und auf meine Gesundheit? In der Charité in Berlin werden von Dr. Tanja Singer buddhistische Mönche ins MRT geschickt, um herauszufinden was bei Meditation im Gehirn passiert. 2011 fand in Bad Tölz eine Tagung statt „Spiritualität transdisziplinär“ initiiert von der LMU in München. Das sind nur zwei kleine Beispiele, wie seriöse Wissenschaftler eine Annäherung an ein Thema suchen, das sich schwer greifen lässt.

Die Begriffsbestimmung allein lässt die Gelehrten verzweifeln: die einen verstehen unter Spiritualität eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung, die anderen definieren Spiritualität als positiven Grundwert und als eigene existentielle Dimension des Menschseins. (vergleiche Büssing und Steinmann S. 42)

 

Eine ungeheure Erscheinungsvielfalt und Diskussionen um Definitionen, was eigentlich Spiritualität ist, erschweren die Forschung.

 

In letzter Konsequenz entzieht sich Spiritualität als Erfahrung sprachlicher Erfassung und Vermittlung und ist nicht, wenn überhaupt nur negativ definierbar.

- Dr. Ralf Marc Steinmann

 

Das klingt nicht besonders ermutigend, schafft es doch eine ehrliche Basis für weitere Erkundungen.

Wenn man es nicht fassen kann und nicht messen, wozu machen wir uns die Mühe?

Ein paar Fakten:

Religion und spirituelle Praxis strukturiert unser Leben und gibt uns einen Rahmen, die Jahreszeiten zu erleben. Diese Struktur, mit ihren Festen und Ritualen, gibt auch unserer Seele Halt. Nicht ohne Grund wurde in der ehemaligen östlichen Bundesländern, die Feier der Konfirmation durch eine Jugendweihe ersetzt. Viele Menschen verspüren die Notwendigkeit, den Übergang in das Erwachsenenalter bewusst zu gestalten. Sehr beliebt sind Kirchen auch, wenn es um Eheschließung und Beerdigungen geht, auch hier gibt es eine Sehnsucht, Übergänge im Leben achtsam zu begleiten. Dieses Bedürfnis und Wirkweise wird oft unterschätzt.

 

Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg. (Pater Willigis Jäger, Benediktiner-Mönch und Zen-Meister)

 

Was konnten die Forscher bisher zum Thema Auswirkungen von gelebter Spiritualität auf Gesundheit finden?

 Es gibt einige hundert Studien, die belegen, dass Achtsamkeit und Meditation, also die Hingabe, das Aufgehen in etwas Höheres, Größeres als wir, einen positiven Effekt auf unser Beruhigungssystem hat. „Eine Wirkung der Achtsamkeitsübungen ist gut nachgewiesen für:

1. die Steigerung der Aufmerksamkeitsregulation,

2. die Vertiefung des Körper-Gewahrseins und damit eine Verbesserung des eigenen gesundheitsfördernden Verhaltens,

3. die Wahrnehmung der Gedanken und Grübeleien und gleichzeitig ein besserer Umgang damit und die präventive Wirkung u.a. für Depressionen,

4. die Veränderung im Umgang mit Gefühlen, besonders mit schwierigen Gefühlen.“

Quelle Internet, MBSR Verband.

 

Weiterhin ist es, genau wie beim Placebo Effekt, erwiesen, dass spirituelle Praktiken, die Ausschüttung von körpereigenem, endogenen Morphium ermöglichen.- Erstaunlich, dass dadurch sogar Gehirnmuster verändert werden können. Das kann bei schmerzbezogenen Krankheitsprozessen wichtig werden und auch für die Stärkung unseres Beruhigungssystems.  Durch Entspannungstechniken können wir eine Verlangsamung unseres Stoffwechsels bewirken und die Atemfrequenz beruhigen. Dabei werden körpereigene, endogene Opiate freigesetzt und Stickstoffmonoxid, der wiederum ist eine Antagonist zu unseren Stresshormonen.

 „-Wir gehen davon aus, dass spirituelle Erfahrungen und Praktiken wie Gebet, Meditation, Kontemplation…- insbesondere über die Induktion von Belohnungsmechanismen und die physiologische Entspannungsantwort schmerz- und stressreduzierend und damit gesundheitsförderlich wirkt.“ - Dr. Tobias Esch, Gesundheitswissenschaftler u.a in Harvard

 

„Beten sie regelmäßig“?

 Viele wären geschockt, wenn sie diese Frage, von einem Arzt gestellt bekämen. Gibt es doch Hinweise, wieviel resilienter Menschen sind, die regelmäßig beten oder leichter ihre Krankheit in ihr Leben integrieren. Genau wie Schmerzen oder Blasenstörungen bei MS, jahrelang nicht abgefragt wurden, wird auch diese Thema vernachlässigt, wie ein blinder Fleck in der Landkarte der Gesundheitsmitarbeiter. Ein blinder Fleck, der lange Zeit in Forschung und Behandlung von kranken Menschen nicht gesehen wurde.

Dr. Nico Kohls (LMU München) bezeichnete auf der Tagung in Bad Tölz nichtgelebte Spiritualität sogar als unterschätzten Risikofaktor für unsere seelische Gesundheit.  Könnte doch vielleicht eines Tages, genau wie Mitgefühl, spirituelle Praxis ein Vorhersagefaktor für seelische Gesundheit sein! Gesellschaften, deren spirituelle Traditionen nicht mehr in Takt sind, zerbrechen leichter und verarbeiten gesellschaftliche Umbrüche schlechter. Wie zerstörerisch die Auswirkungen sind, wenn man einem Volk seine Traditionen, Glauben und Sprache nimmt, waren nicht nur bei den indigenen Völkern der USA zu beobachten.

Dr. Ernst Pöppel versteht Meditation und Beten als möglichen Befreiungsversuch.

Befreiungsversuch in dem Sinn, dass wir jeden Tag zigtausende von Gedanken produzieren, dieses Getrieben sein wird durch Beten und Meditation unterbrochen. Eine Befreiung unseres Bewusstseins aus der dauernden Besetztheit mit Gedanken und Gefühlen (vergleiche „Spiritualität transdisziplinär“ S.7)

Auch in unserer christlichen Tradition gibt Meditative Versenkung, z. B das Herzensgebet.

Für mich existiert ein großer Unterschied zwischen körperlich Gesund sein und Heil- werden. Ich hatte Kontakt zu einer Gruppe aus Balletttänzern, jeder ausgestattet mit einem perfekten Körper und doch konnte ich beobachten, und ich spüre heute die Gänsehaut, die ich hatte, wie sie sich mit unerbittlichen Härte antrieben zu üben, die Unzufriedenheit über kleinste Unvollkommenheiten, mit der sie sich geißelten.

Auf der anderen Seite liebe MS Patienten, die trotz schwerer Spastik und Betroffenheit, in ihrem Blick jedoch eine große Gelassenheit, Würde, Liebe und Mitgefühl tragen. Wer ist gesünder, wer ist auf einem heilsamen Weg?

 

 Wende deinen Blick nicht ab.

Schau weiter auf die verbundene Stelle.

Dort kommt das Licht in Dich hinein.

Rumi

 

Spiritualität kann auch eine Ressource sein, meinem Leben Sinn und Bedeutung zu geben, Zusammenhänge zu verstehen, mich mit der eigenen Lebensgeschichte auszusöhnen, um nicht zu verbittern. Dieser aktive Gestaltungs- und Heilungsprozess, kann unserem Herzen, tief in unserem Inneren, ein bisschen mehr Platz geben und so Raum schaffen für Vergebung und Frieden.

 Wo die Zeit nie hinkam, wo hinein nie ein Bild leuchtete, in dem Innigsten und Höchsten der Seele schafft Gott seine Welt." (Meister Eckhart)

 

Jetzt kommt sie wieder die Zeit, die Tage werden kürzer und die längste Nacht lässt uns fast den Glauben an den nächsten Sommer verlieren, eine Zeit, in der die Tore zu anderen Welten durchlässiger werden. Sogar eingefleischte Atheisten feiern Weihnachten, zünden in einer Kirche eine Kerze an, für geliebte Menschen und feiern die Geburt des Lichts.

Ich bin zwar keine Kirchgängerin, aber wenn ich verzweifelt bin, hilft es mir zu beten.“

Ob an Weihnachten oder bei der Geburt eines Kindes oder beim Betrachten eines Sonnenuntergangs, wir alle spüren, es gibt noch etwas anderes als diese sichtbare Welt.

Gelebte Spiritualität, gelebter Glauben sind für uns so wichtig wie atmen.

 

Ein Glaube, der uns Heilung und Vertrauen schenkt inmitten der Stürme unseres Lebens, Licht inmitten des Dunkels im diesem Winter, uns unterstützt, damit wir unsere Berge versetzen können.

Was wünsche ich Ihnen? Dass Sie sich auf der Suche nach einer transzendenten Welt, ihren inneren Raum erhellen und Heilung finden können.

 

Ihre Martina Dismond

 

Literatur

Büssing, Kohls „Spiritualität transdiziplinär“